So, grau ist alle Theorie, ich bringe jetzt noch etwas aus der Praxis. Ganz ohne Formeln und nur zum Verständnis der Kompressionswerte, die höher als das Verdichtungsverhältnis sind.
WARNUNG:
Viel Text, Viel Wissen, Keine Bilder!
Um die Luft im Zylinder zusammenzudrücken, wird Verdichtungsarbeit geleistet. Der Anlasser dreht den Motor und es wird Luft zusammengedrückt. Fände dieser Vorgang langsam statt, käme es nur zu einer geringen Erwärmung und wir wären recht nah an den Drücken aus dem vorherigen Rechenbeispiel. Dummerweise ist der Kolben dafür nicht dicht genug und die Luft würde schneller entweichen als uns lieb ist. Das macht man sich bei der "Druckverlustprüfung" zu nutze, indem man Druckluft in den Zylinder einfüllt und die Zeit misst, in der dieser Druck abfällt.
Im praktischen Versuch, also bei der Kompressionsdruckmessung, erwärmt sich die komprimierte Luft im Zylinder. Je schneller komprimiert wird, desto höher ist die Temperatur. Während bei den ersten Umdrehungen noch ein großer Teil der Wärme über die kalte Zylinderoberfläche abgeführt wird, bleibt die Temperatur in den folgenden Umdrehungen hoch. Die Luft wird bei Umgebungstemperatur angesaugt und kann dann im warmen Zustand keine Wärme mehr an die ebenfalls warmen Zylinderwände abgeben. Bei gleicher Luftmasse bedeutet eine höhere Temperatur bei gleichem Volumen einen höheren Druck. Das ist übrigens der Grund, warum der Kompressionsdruck in den ersten 3-5 Umdrehungen deutlich sichtbar ansteigt.
Um sich mal ein Bild von den Temperaturen zu machen: Ein nicht vorgeheizter Diesel schaft es im Sommer, allein durch die Verdichtung auf eine Temperatur von über 225°C (Zündtemperatur Diesel) zu kommen. Er läuft dann zwar in den ersten Sekunden wie ein Sack Nüsse, aber er läuft.
Also "schnell komprimieren" bedeutet "warm" und "warm" bedeutet "höherer Druck". Wie versprochen, ganz ohne Formeln.
Und jetzt kommen die Gemeinheiten:
Es gibt bei Anlassdrehzahl eine gewisse Wärme, die zu einer Erhöhung des Kompressionsdrucks über den geometrisch (isotherm) errechneten Druck führt. Die zugehörigen kalorischen Berechnungen sind nicht einfach, sie sind abhängig von Material, Drehzahl, Kühlung, Form und vielen anderen Faktoren. Man kann grob sagen, dass beim Benziner das 1,5-fache und beim Diesel das doppelte des geometrisch errechneten Drucks herauskommt.
Dieses Ergebnis passt aber nur bei volumenrichtiger Messung. Das bedeutet, dass man einen elektronischen Drucksensor mit Kerzenform in den Zylinder schrauben muss. Erhöht man das Volumen des Verdichtungsraums durch das Messgerät, verringert sich das Verdichtungsverhältnis (siehe Beispielrechnung in #52) und ein erheblicher Teil des Kompressionsdrucks geht verloren.
Ist die Batterie nicht voll geladen, kann die Spannung beim Drehen des Motors deutlich abfallen. Die Spannung bestimmt die Drehzahl. Eine niedrigere Drehzahl erzeugt weniger Wärme in der komprimierten Luft, ein langsamerer Verdichtungsvorgang lässt während der dann länger dauernden Kolbenbewegung mehr Leckluft an den Kolbenringen entweichen. Fällt die Spannung beim Anlassen unter 9V, fehlen 2 bar oder mehr.
Ist die Werkstattgrundausstattung ein elektronisches Messgerät, sind die Herstellervorgaben für den Kompressionsdruck höher. Wird mittels Motometer mechanisch gemessen, sind die Angaben niedriger. Zusätzlich werden dann (normalerweise) Einschraubadapter vorgeschrieben und Verlängerungen verboten.
In der Praxis erreicht man Werte zwischen dem 0,9-fachen und 1,2-fachen der geometrisch errechneten Drücke, wenn man mit einem Motometer und dem Gummikonus misst. Man liegt 20-30% unter den empfohlenen Werten für elektronische Messung.
Es kann durchaus sein, dass man einen Motor mit einem Verdichtungsverhältnis von 10:1 in einer Werkstatt elektronisch mit 14 bar misst, während in einer anderen Werkstatt das Motometer nur 9 bar aufschreibt. Das ist kein Grund zur Panik. Ein Motor verabschiedet sich bei einem "normalen Defekt" zylinderweise, das würde man auch auf dem 9-bar-Aufschrieb sehen.
Kommt das Motometer in einer älteren Werkstatt auf Werte über den Werksvorgaben, ist höchstwahrscheinlich in ein 12-bar-Messgerät eine 17,5-bar-Scheibe eingelegt.
Messfehler und Umwelteinflüsse habe ich absichtlich nicht betrachtet. Dieses Thema würde mehrere Diplomarbeiten füllen.
Gruß
MadGyver